An der Schwelle zum eigenständigen Leben
„Plötzlich erwachsen, das war ein kleiner ‚Breakdown’.“ Selina Steffatschek erinnert sich, wie sich das vor sechs Jahren anfühlte als Care Leaver. Der englische Begriff bedeutet, die Fürsorge einer Pflegefamilie oder Jugendhilfeeinrichtung zu verlassen. Laut Statistischem Bundesamt wuchsen 2022 in Deutschland rund 207.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – zeitweise – jenseits der eigenen Familie auf: 121.000 im Heim, 86.000 in Pflegefamilien.
Selina Steffatschek floh mit 15 Jahren vor Gewalt und Missbrauch des Stiefvaters in eine Wohngruppe der Waldhaus Jugendhilfe Hildrizhausen. „Meine Mutter glaubte mir nicht, meine Lehrerin war überfordert, nach Streit ging ich zu Oma, sie informierte das Jugendamt.“ Mit dem Abitur zog sie in das Betreute Jugendwohnen (BJW) der Tübinger kit-jugendhilfe. Ein weiterer, kein einfacher Schritt zur Eigenständigkeit. „Vorher 24-Stunden-Betreuung, beim BJW zwei Mal pro Woche. Die Mitbewohner*innen fehlten, nun war ich selbst verantwortlich.“
Früh auf eigenen Beinen stehen
Mit durchschnittlich 24 Jahren verlassen junge Menschen in Deutschland das Elternhaus, können stets aber bei Hotel Mama aufschlagen. Care Leaver müssen früh auf eigenen Beinen stehen, mancherorts mit 18 Jahren, spätestens mit 21. Da endet die Jugendhilfe in der Regel. Da sollte man eine eigene Wohnung, bestenfalls Ausbildung oder Beruf haben – danach suchen sollte man schon ein Jahr zuvor laut Hilfeplan, etwa noch in der Wohn- oder Verselbständigungsgruppe.
Oft falle man in ein emotionales Loch, so Selina Steffatschek. Organisation, Amtsgänge, Verträge lerne man nicht in Schulen. „Manche Care Leaver haben Kontakt zu ihren Eltern, ich nicht. Gut, dass ich noch ein paar Stunden Therapie hatte und Ansprechpartner*innen, wo ich nichts verstecken musste.“
Nun arbeitet die 27-Jährige selbst bei einem Kinder- und Jugendhilfeträger als Jugend- und Heimerzieherin in Stuttgart. Ab Herbst studiert sie Soziale Arbeit. Und sie engagiert sich im Verein Careleaver Deutschland. Die Mitglieder schreiben Positionspapiere, berichten im Bundestag, wirkten mit am Kinder- und Jugendstärkungsgesetz. Manches habe sich verbessert.
Care Leaver müssten nicht mehr 75 Prozent vom Verdienst abgeben wie früher. „Das hilft für die Übergänge, um auf den Auszug zu sparen.“ Sie wünscht sich mehr Sensibilität, weniger Tabuisierung in Schulen. „Läuft was falsch, darf und soll man sich an Schulsozialarbeit und Vertrauenslehrer wenden, die haben Schweigepflicht.“ Super sei, dass das Jugendamt Stuttgart mit Careleaver e.V. arbeite, das Jugendamt Böblingen bald, die kit jugendhilfe Tübingen längst eine 50-Prozent-Stelle für Care Leaver habe – vom Landkreis regelfinanziert.
Jugendstärkungsgesetz: Anspruch auf Nachbetreuung
Das sind einzelne Leuchttürme in der Jugendhilfelandschaft!
Dabei haben Care Leaver nach dem Jugendstärkungsgesetz 2021 rechtlich Anspruch auf Nachbetreuung durch die Kinder- und Jugendhilfe. „Die tut Not: Zu uns kommen zwischen 21- bis 24-Jährige, schätzen Erwachsene, die zuhören, helfen“, so Nina Wlassow von der kit jugendhilfe. Rund 100 junge Menschen verlassen jährlich die stationäre Jugendhilfe in Tübingen, sie dürften nicht vereinsamen. „Wir organisieren auch Gemeinschaftsaktivitäten wie Brunch oder Ausflüge, um Kontakt zu pflegen und zum Netzwerken!“
Die Themen der Care Leaver reichten von Reden, Behörden- schreiben, Berufsorientierung und Ausbildungsabbruch bis zu Beziehungsproblemen und Lebenskrisen. Das Gros? Exis tenzsicherung. Das Jugendamt finanziert Unterbringung mit Steuergeldern, ein Teil wird von den Eltern zurückgeholt. Crux beim BAföG-Antrag: Die Höhe wird am Elterneinkommen bemessen. „Manche Care Leaver wollen mit ihren Eltern nichts zu tun haben, fordern elternunabhängige Sozialleistungen“, so Wlassow. „Das elternunabhängige BAföG aber ist kompliziert.“
Erweiterte Nachbetreuung auch in Böblingen
Wie in Tübingen erhalten junge Menschen auch Beratungsgutscheine beim Jugendamt Böblingen, wo Viola Haas tätig ist: „Für ambulante Beratungen danach.“ Den Prozess der erweiterten Nachbetreuung habe man 2020 gestartet. Nun bekommt der Landkreis eine 60 Prozent-Anlaufstelle.
„Hoffentlich eine Ressource für Care Leaver. Die Nachbetreuenden lernen sie schon – falls gewünscht – beim Abschlusshilfeplangespräch kennen.“ Geplant sind offene Sprechstunden, Gruppenabende, die Selbstvertretung voranzubringen. Im Einzelfall ist auch der Soziale Dienst an Bord, etwa bei schwerer seelischer Behinderung. Care Leaver dürfen die Gutscheine flexibel einlösen, bei Wohngruppen, ambulanten Diensten, freien Trägern. „Nach den ersten zehn gibt es bei der Anlaufstelle nochmals zehn. So bleiben wir in Kontakt, bekommen ein Monitoring der Bedarfe.“ Einmalig gäbe es ein weiteres, flexibles Stundenbudget für sechs Monate, falls laut Abschlusshilfeplan die ersten drei Hilfen nicht reichten. Hauptprobleme der Care Leaver? „Klassische Lebensthemen, persönliche Beziehungen, Ausbildung, Jobwechsel, stark belastet die Wohnungssuche. Personen aus Jugendhilfeeinrichtungen werden oft stigmatisiert“, so Haas.
Nicht nur menschlich und pädagogisch brauche es diese Stellen, auch wirtschaftlich. „Die öffentliche Hand investiert in Kleinstkinder, Familienhilfen, Tages- und Wohngruppen. Sollen wir sie dann in der Umbruchsphase zum Erwachsenwerden – für jeden krisenbehaftet – fallen lassen? Dann war alles vorher vergebens. Auch angesichts des Fachkräftemangels muss Ziel sein, sie über die Schwelle zu einem eigenständigen Leben zu lupfen. Es zahlt sich aus.“
„Wir sind ein sicherer Hafen“
Das unterstreicht auch Arne Höller, Vorstand Pädagogik im Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Waldenburg. „Die jungen Menschen bringen schon Päckchen, schlimmste Erlebnisse, von Zuhause mit. Zu uns kommen Kinder zwischen null und sechs Jahren – ohne Rückführungsperspektive, sie brauchen zum Aufwachsen ein familiäres Setting.“ Eine Kinderdorffamilie besteht aus einer angestellten pädagogischen Fachkraft und ein*e Partner*in, die „bewusst“ außerhalb des Dorfs arbeitet, manchmal leiblichen Kindern, vielen Kinderdorfgeschwistern.
„Wir sind ein sicherer Hafen, wenn die jungen Erwachsenen die Jugendhilfe verlassen“, so Höller. „Wie im echten Leben, wo man auch Vater und Mutter besucht, zum Weihnachtsessen oder wegen Rückschlägen.“ Das Albert-Schweitzer-Kinderdorf bietet dann Lösungen wie Übergangswohnen. „Wir haben einen eigenen Fonds für Kredite sowie ein Care Leaver-Auto zum gratis Leihen.“ Der Ehemaligenrat aus früheren Care Leavern, Höller und Kollegin verwaltet das Kreditbudget. „Auch unser erstes Kinderdorfkind, nun 67 Jahre alt, ist dabei!“
Gesprächspartner*innen:
Viola Haas, Landratsamt Böblingen
Arne Höller, Vorstand Pädagogik, Albert-Schweitzer-Kinderdorf Waldenburg
Selina Steffatschek, Care Leaverin
Nina Wlassow, kit jugendhilfe Tübingen
Beitrag aus ParitätInform 2/2024