Mit Mut, Nachdruck und Entscheidungsfreude

Fachinformation - geschrieben am 16.01.2023 - 15:29
BTHG und ein Porträt der Landesbehindertenbeauftragten Simone Fischer

Die Verbesserungen, die das Bundesteilhabegesetz vorsieht, müssen endlich bei den Menschen ankommen

Bei der Umsetzung des BTHG, das die Lebenssituation der Menschen, die mit einer Behinderung leben, verbessern soll, müssen wir in Baden-Württemberg entschlossen vorangehen. Sie haben einen Anspruch und müssen sich darauf verlassen können, dass die Verbesserungen, die das Gesetz vorsieht, mit Leben gefüllt werden und zügig bei ihnen ankommen. Die Chancen, die es eröffnet sowie die Weiterentwicklung der Angebote in Richtung individueller und passgenauer Leistungen sind bisher nur in zarten Ansätzen erkennbar.

Nachdem die Stadt- und Landkreise mit den Leistungserbringern im Jahr 2020 einen Landesrahmenvertrag vereinbarten, wurde zunächst eine Übergangsvereinbarung zur Umsetzung des BTHG für die Jahre 2020 und 2021 abgeschlossen. Bereits 2021 wurden keine bedeutsamen Effekte erzielt, deshalb schloss sich eine weitere Übergangsregelung für 2022 und 2023 an. Dies haben die Interessenvertretung der Menschen mit Behinderungen und das Land notgedrungen mitgetragen. Wir können nicht hinnehmen, dass man sich von Übergangsvereinbarung zu Übergangsvereinbarung hangelt. Bis 31. Dezember 2023 sind die Angebote, Dienste und Einrichtungen tatsächlich auf das neue Recht umgestellt. Eine weitere Verlängerung kann es nicht geben.

Ansprüche auf individuelle Leistungen sicherstellen

Um voranzukommen, müssen die Vertragspartner vor Ort jetzt zu Verhandlungen über die Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen auffordern und auf gesetzeskonformer Grundlage personenzentriert abschließen. Die Vielzahl der Modelle für die Leistungs- und Vergütungssystematik, deren Komplexität sowie die Zerrissenheit von Vertragspartnern erschweren bisher die Verhandlungen und das Zustandekommen von Abschlüssen. Klar ist, dass eine Zusammenfassung von Leistungen und eine Vergröberung der Leistungssystematik nicht dem BTHG und SGB IX, also der personenzentrierten Leistung, entspricht.

Die Ansprüche auf individuelle Leistungen sind bereits sicherzustellen, auch in den besonderen Wohnformen. Dies beginnt mit der Ermittlung des individuellen Rehabilitationsbedarfs. Das BEI_BW und die Verfahren der Bedarfsermittlung wurden in einem konsensorientierten Beteiligungsprozess gemeinsam erarbeitet. In jedem Fall benötigt es eine der Personenzentrierung gerecht werdende, gleichwertige Anwendung des BEI_BW in allen Kreisen. Wie erfolgreich sich dies in den 44 Stadt- und Landkreisen bewährt, wird ein landesweites Monitoring zeigen. Kern bleibt immer, dass die Bedarfe der Menschen mit Behinderungen umfassend ermittelt werden und ihr Rechtsanspruch erfüllt wird.

Selbstverwirklichung und individuelle Teilhabe

Mit dem BTHG und der Änderung des SGB IX wurde der Grundstein gelegt, dass sie jene zeitgemäße Assistenz und passende Angebote finden, die sie benötigen, um ein gutes Leben zu führen. Es handelt sich nicht um Sonderrechte einer einzelnen Gruppe. Das BTHG konkretisiert die jedem Menschen zustehenden Rechte, um vollumfänglich in der Gesellschaft zu leben. Dafür sind vor Ort die Voraussetzungen zu schaffen. Es handelt sich um Nachteilsausgleiche, wozu gehört, dass nicht nur die Grundbedürfnisse gestillt sind. Soziale Beziehungen, Unternehmungen, Wertschätzung, Selbstverwirklichung und individuelle Teilhabe gehören zu einem erfüllten Leben und persönlichen Wohlbefinden. Sie sind für jeden von uns von Bedeutung.

Gerade Menschen, die sich in exklusiven Systemen bewegen, wie eine besondere Wohnform, WfbM oder ein Förder- und Betreuungsbereich, finden nicht immer selbstverständlich Bedingungen vor, die darauf ausgerichtet sind. Eine Studie der TU Darmstadt aus 2021 zeigt, dass bundesweit in der Eingliederungshilfe ein akuter Mangel an Fachkräften besteht. Auch wenn die Angebote der Eingliederungshilfe ein sicheres Lebens- und Arbeitsumfeld bieten müssen, zeigen Studien, dass die Realität oft anders aussieht. Menschen, die diese Angebote nutzen, empfinden ihr Leben häufig als fremdbestimmt bis hin zum Erleben unterschiedlicher Formen von struktureller und individueller Gewalt.

Es ist höchste Zeit, dass die gesellschaftliche Transformation der Eingliederungshilfe mit Leben gefüllt wird. Moderne Ausrichtung, inklusive Strukturen innerhalb der Einrichtungen und Angebote, Kooperationen mit anderen Anbietern und Zivilgesellschaft im Sozialraum tragen dazu bei, dass sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Nutzer*innen sowie Mitarbeitende verbessern. Von zentraler Bedeutung ist, neben der besonderen Wohnform die Fortentwicklung der tagesstrukturierenden Angebote, den Ausbau von Assistenzleistungen und des Persönlichen Budgets außerhalb von Einrichtungen anzugehen. Aufsuchende oder häusliche Angebote werden von jenen in Anspruch genommen, die in der eigenen Wohnung, in WG‘s, Gastfamilien, mit Angehörigen oder im Generationenwohnen leben. Diese sind fortschrittlich und werden aller Voraussicht künftig noch stärker nachgefragt.

In diesem Jahr habe ich viele Menschen mit Behinderungen in ihren unterschiedlichen Lebenssituationen getroffen. Ich erhielt Einblick in ihren Alltag, sie erzählten von ihren Hoffnungen, die sie als Nutzer*innen in das BTHG setzen. Dabei sind es meist natürliche Belange: Die Assistenz beim Wohnen, der Arbeit, beim Konzertbesuch, Singen im Chor, dem Bewegungskurs oder eine andere eigene Freizeitbeschäftigung, Freundschaften außerhalb der Einrichtung, die Assistenz der Wahl für den Wocheneinkauf oder die Pflege. Menschen mit Behinderungen brauchen Wahlmöglichkeiten, um auch mit Assistenz so individuell leben, arbeiten und die Freizeit verbringen zu können.

Bisherige Strukturen öffnen, um echte Personenzentrierung zu gewährleisten

Es erfordert, dass nicht mehr um Geld und Macht gerungen wird, vielmehr das BTHG bei ihnen ankommt. Dass Behörden und Angebote der Eingliederungshilfe sich weiterentwickeln, damit unabhängig davon, wo Menschen wohnen oder arbeiten, spezifische Teilhabe sichergestellt ist. Es braucht neue Herangehensweisen, das Öffnen bisheriger Strukturen, um echte Personenzentrierung von der Vereinbarung bis zur Leistungserbringung zu gewährleisten; verschiedenartige Angebote und eine deutlich inklusive Sozialraumorientierung. Um künftig Bedarfe personenzentriert sicherzustellen, sind neue Kooperationen nötig. Bei den Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen ist darauf zu achten, dass es weder dem Grundverständnis des LRV noch dem Gesetz entspricht, pauschale Leistungen einer besonderen Wohnform als untrennbar zu definieren, die in jedem Fall zwingend bei einem einzigen Leistungserbringer in Anspruch genommen werden müssen. Der „Grundsatz der Personenzentrierung für die Feststellung des Hilfebedarfs, für die Deckung des individuellen Bedarfs wie auch für die Leistungserbringung“ ist leitend für die Ausgestaltung der Eingliederungshilfe und damit für die Verhandlung von Leistungsvereinbarungen vor Ort. Ein vereinbartes Angebot muss immer im Sinne des Gesetzes, damit auch des Wunsch- und Wahlrechts sein.

Umsetzung erfordert Mut, Nachdruck und Entscheidungsfreude

Die Umsetzung des BTHG in seinem nutzer*innenorientierten Sinne erfordert Mut, Nachdruck und Entscheidungsfreude. Es braucht niederschwellige Zugänge, moderne Angebote, individuelle Assistenz und Flexibilität in Behörden wie Institutionen. Auf dem Weg zu selbstverständlicher Teilhabe und Inklusion liegen Herausforderungen, vor allem Chancen vor uns. Dass wir in unserem Land, den Kommunen, in Gesellschaft und Unternehmen sowie den Angeboten der Eingliederungshilfe zeitgemäße Voraussetzungen schaffen, die ermöglichen, dass Menschen mit Behinderungen Wahlmöglichkeiten haben und selbstbestimmt wohnen, leben, arbeiten und ihre Freizeit verbringen können, ist unser aller Auftrag, letztlich ein Merkmal von Qualität und Professionalität. Wenn wir, die wir an der Umsetzung des BTHG arbeiten, diese Ziele immer im Auge behalten, ist sie schlicht gemeinsam zu bewältigen.

Simone Fischer

Landes-Behindertenbeauftragte

Geschäftsstelle der Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg für die Belange von Menschen mit Behinderungen

 

Beitrag aus PARITÄTinform 4/2022

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