Mit offenen Augen durchs Quartier

Fachinformation - geschrieben am 29.11.2022 - 13:05
zwei ältere Menschen mit Mikrofonen an einem Tisch sitzend

Ziel ist ein „WohnquartierPlus“ mit 24-Stunden-Versorgungssicherheit

Der Stuttgarter Verein Integrative Wohnformen entwickelt kleinräumige sozialraumorientierte Konzepte und Projekte in Quartieren und deren Wohnungsbeständen nach den Bedürfnissen aller Bewohner. Ziel ist bedarfsgerechtes und generationenübergreifendes „Wohnen mit Versorgungskonzept – ein Leben lang im Quartier“.

„Im Wohncafé treffen sich Menschen, die sich sonst nie gemeinsam irgendwo hingesetzt hätten.“ Dirk Fröhlich bringt auf den Punkt, was viele seiner Nachbarinnen und Nachbarn empfinden. Er lebt in einer genossenschaftlichen Wohnung in Esslingen, in deren Quartier das Wohncafé Treffpunkt zahlreicher Mieter und Mieterinnen ist. Eingerichtet hat dieses der gemeinnützige Verein Integrative Wohnformen e.V., den 2008 Stuttgarter Wohnungsunternehmen respektive Baugenossenschaften gründeten. Warum, das beschreibt Geschäftsstellenleiterin Dagmar Lust. „Unsere Mieter und Mieterinnen wurden älter, mussten teilweise aus ihren Wohnungen ausziehen, weil sie nicht mehr alleine zurechtkamen. Das wollte man nicht. Manche sind da schon von Geburt an. Sie sollen möglichst lange eigenständig in ihrer Wohnung, mindestens in ihrem gewohnten Umfeld bleiben können.“ Da manche Bauten schnell nach dem Krieg hochgezogen wurden, seien nicht alle schwellenarm anpassbar. „Aber dann sollen Mieter eine Wohnung im Quartier bekommen, wo sie leben“, so die Sozialpädagogin.

 

Generationenübergreifende Hilfe und Unterstützung

Mittlerweile zählt Integrative Wohnformen 13 Mitglieder mit einem Wohnungsbestand von rund 30.000 Wohnungen in Stuttgart, Esslingen am Neckar und Kirchheim unter Teck: Neben Baugenossenschaften und Wohnungsunternehmen – auch mit stiftungsartigem Charakter oder GmbHs – gehören die Stadt Stuttgart und der Landkreis Esslingen dazu. „Unser Fokus ist generationenübergreifend, liegt auf allen Zielgruppen, die vorrangig Unterstützungs- und Hilfebedarf haben, von der jüngeren Frau mit Multiple Sklerose über den älteren Witwer bis zu Familien.“ Er liegt auch auf einen Ort im Quartier, der Begegnung, soziale Kontakte und Austausch ermöglicht, gegenseitige Unterstützung und professionelle Hilfeleistungen. „Daher sind die Wohncafés Dreh- und Angelpunkte, Nachbarschaftstreffs, maximal innerhalb von 1.000 Metern erreichbar, offen für alle Menschen, jeder und jede ist willkommen“, betont Lust. „Dort gibt es Mahlzeiten, in manchen Treffs haben sich Skatgruppen zusammengefunden, Spielenachmittage werden organisiert, aber auch Hausaufgabenhilfe angeboten, Repair-Cafés, kleinere hauswirtschaftliche Dienste, je nach Bedarf.“ Um möglichst alle zu erreichen, würden freilich auch Feste veranstaltet.

Dass so Gruppen entstehen, die sich gegenseitig unterstützen, ist Sinn der Sache. „Ziel ist, das alles von den Menschen für die Menschen gestaltet wird.“ Was früher die Telefonkette war, sei heute die WhatsApp-Gruppe. „So merkt man, wenn Frau Schmidt schon das dritte Mal nicht beim Essen war – und kümmert sich.“

Mit professioneller Unterstützung: Der Verein arbeitet mit sozialen Trägern zusammen, die vor Ort Hilfe anbieten können – von niederschwelligen Angeboten bis zur Betreuung und Pflege. „Wir suchen zu den Themen jeweils Kooperationspartner“, erläutert Lust.

Das Portfolio ist breit. Nicht nur die Wohnungsunternehmen tragen Bedarfe an den Verein heran. Auch Befragungen werden durchgeführt, um herauszufinden, in welchem Quartier was nötig ist. Zudem veranstalten Lust und ihre Kollegin Lämmle Vortragsreihen für Bewohnende, laden etwa Expert*innen zu Demenz ein, zu Mobilität und Fitness im Alter, organisieren Workshops. Im Fasanenhof etwa wurde „Meine digitale Nachbarschaft“ angeboten. „Während Corona waren die Wohncafés zu, weitere Formen des Austausches waren gefragt“, so Lust. „Wir wollten schauen, was Menschen über 50 und 60 brauchen, um digital fit zu werden. Alle sprechen von Digitalisierung – nicht jeder hat einen Computer zuhause.“

Nachbarschaftslotsen achten auf ihre Umgebung

Ein mit Fördergeldern finanziertes niederschwelliges Projekt sind die Nachbarschaftslots*innen. „Manche allein Lebende besuchen kein Wohncafé, aber sie kaufen ein, sind vor Ort unterwegs. Menschen kennen sich vom Sehen. Die Lotsen werden sensibilisiert, auf ihre Nachbarn zu achten, und geschult.“

Auch den Mitarbeitenden der Mitgliedsunternehmen werden Schulungen und Coachings zu vielen Sozialthemen angeboten. „Demenz, Einsamkeit, Messie-Syndrom und anderes mehr“, so Lust. „Wir wollen sensibilisieren – damit sie wissen, wo sie sich Hilfe holen und Mietern etwas anbieten können.“

Das kommt an. Eine Nachbarschaftslotsin betont: „Einkaufen für die Nachbarn ist selbstverständlich, aber in der Schulung kann ich auch was für mich mitnehmen!“ Lust ergänzt, dass die Lotsen nicht wie Nachbarschaftshelfer in die Wohnung gehen, sondern mit offenen Augen durch ihr Quartier. Und so merkten, wenn jemand, der zum Bäcker gehe, plötzlich unfit daherkomme. „Sie motivieren ihn im besten Fall, ins Wohncafé mitzukommen, wo dann professionelle Helferinnen und Helfer sind“, so Lust. „Wichtig ist Struktur, Menschen brauchen einen Ort, zu dem sie regelmäßig gehen – auch nur einmal in der Woche.“ So meinte ein älterer Herr im Gespräch mit dem Vorstand einer Baugenossenschaft:

„Nachdem meine Frau gestorben ist, war ich allein in der Wohnung, bin halt mal zum Einkaufen gegangen. Aber seit das Wohncafé da ist, gehe ich zwei Mal in der Woche zum Essen – plötzlich habe ich wieder Kontakt.“

Solche Rückmeldungen freuen Lust und Lämmle. Aber sie kennen auch die Herausforderungen: „Die nachhaltige Finanzierung einer Person, die vor Ort sich kümmert wie früher die Gemeindeschwester, eine Person des Vertrauens, der man sagen kann, wenn es schwerfällt, mit Taschen die Treppen hochzulaufen. Eine Person, die jemand motivieren kann, für andere mit einzukaufen.“ In Sachen Wohnformen wiederum sei es wichtig, von Anfang an Menschen mitzunehmen, so den Bedarf festzustellen. Braucht es Tagespflege, betreutes Wohnen oder einen Träger der Behindertenhilfe, der WGs anbietet, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenleben? Sie nennt das soziale „WohnquartierPlus“ (WQ+) mit 24-Stunden-Versorgungssicherheit, das zur Internationalen Bauausstellung (IBA) bis 2027 in Stuttgart-Rot entstehen soll. Ein gutes Beispiel!

Petra Mostbacher-Dix

M.A.

 

Dagmar Lust, Geschäftsstellenleitung

Nathalie Lämmle, Projektmanagement

Integrative Wohnformen

Beitrag aus PARITÄTinform 3/2022

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