Potential der Herkunftssprachen nutzen

Fachinformation - geschrieben am 02.08.2022 - 17:06
Junge Menschen, die Sprechblasen in verschiedenen Sprachen halten

Mehrsprachigkeit statt halber Sachen an unseren Schulen

Über ein Drittel der Bevölkerung und 50 Prozent der Vorschulkinder in Baden-Württemberg haben Migrationserfahrung. Die statistischen Landesdaten zeigen fortlaufende erhebliche Zuwanderung, insbesondere aus EU-Staaten. Dazu kommen Geflüchtete.

Der vierte Bildungsbericht des Landes Baden-Württemberg wurde am 24. Januar 2019 veröffentlicht[1]. Er enthält Daten, die Sorgen machen: In der Lernstandserhebung VERA 3 – 2018 wurde festgestellt, dass von den 21 Prozent der Drittklässler*innen, die eine andere Alltagssprache als Deutsch sprechen, knapp die Hälfte (47 Prozent) die Mindeststandards im Lesen nicht erreicht. 44 Prozent der Viertklässler mit Migrationshintergrund, die 2016 getestet wurden, waren im Lesen etwa ein Schuljahr hinter ihren Mitschüler*innen ohne Migrationshintergrund zurück, beim Zuhören sogar sechs Jahre.

Auch in Mathematik erreichten 70 Prozent nicht die Regelstandards und 37 Prozent nicht einmal die Mindeststandards. Im Fachunterricht muss ebenfalls Sprachverständnis vermittelt werden. Diese Schüler*innen sind an den Haupt- und Werkrealschulen überrepräsentiert, ebenso ist der Anteil an Schüler*innen gestiegen, die ohne einen Hauptschulabschluss die Schule verlassen.

Schwacher Hauptschulabschluss als Sackgasse

Ein Fünftel der Viertklässler*innen mit Migrationshintergrund weist nicht ausreichende Kenntnisse in den Kernfächern auf, um die weiterführende Schule mit Erfolg zu durchlaufen. Kinder mit einer anderen Familiensprache als Deutsch haben es deutlich schwerer, in den Kernkompetenzen mitzuhalten[2]. Kein Wunder – die Sprachförderung für neu zugewanderte Schüler*innen in den baden-württembergischen Schulen ist nicht ausreichend, von einer durchgängigen Sprachbildung von der Kita bis zum Abitur kann nicht die Rede sein. Dafür wird als Fremdsprache Englisch verlangt, ohne zum Nachlernen Deputate zur Verfügung zu stellen. Die mitgebrachten Sprachen werden in den Schulen nicht erteilt. So lernen diese Schüler*innen nicht die erforderliche Bildungssprache Deutsch, kommen in Englisch oft nicht mit, und ihre Familiensprachen verkümmern. Dieses Vorgehen endet für viele mit einem schwachen Hauptschulabschluss als Sackgasse. Auch in der theoretischen Ausbildung an der Berufsschule scheitern diese Jugendlichen sehr oft, sie verstehen die Prüfungsaufgaben sprachlich nicht.

Mehrsprachige Fachkräfte fehlen

Dabei fehlen schon jetzt der Wirtschaft die Fachkräfte, während die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern an Bedeutung gewonnen hat. Schüler*innen, Auszubildende und Studierende mit guten schriftlichen wie mündlichen Kenntnissen in Deutsch und ihrer Herkunftssprache sowie einer hier erworbenen Ausbildung sind die Mitarbeiter*innen und Führungskräfte von heute und erst recht von morgen, die händeringend gesucht werden.

Der Landesverband der kommunalen Migrantenvertretungen in Baden-Württemberg (LAKA) hat am 21. Februar 2021 eine Petition an den Landtag eingereicht, herkunftssprachlichen Unterricht als Regelangebot in den Schulen einzuführen, wie es bereits 12 Bundesländer praktizieren. Über die Petition ist noch nicht entschieden. Der Koalitionsvertrag (S. 65) enthält jedoch bereits das Versprechen, ihn einzuführen. Ein Vorschlag zu einem Modellversuch (Prof. Dr. Havva Engin, PH Heidelberg) wird den politischen Gremien gerade eingereicht.

Die Begründung für die Petition wurde von der Autorin dieses Beitrages formuliert: „Da viele Schüler*innen zuhause mindestens eine andere Sprache als Deutsch sprechen, liegt es im Interesse des Landes, zum einen das Erlernen der deutschen Sprache so intensiv zu fördern, dass jedes Kind die Sprache altersgemäß beherrscht und den Anschluss schafft und zum anderen das Potenzial der Herkunftssprache(n) zu nutzen. Es liegen valide Forschungsergebnisse vor, die einen positiven Effekt der guten Kenntnis von Herkunftssprachen auf die Deutschkompetenz und auf die fachlichen Leistungen insgesamt aufzeigen.“

Auch integrationspolitisch wichtig

Mehrsprachigkeit und Sprachenvielfalt sind in einem einheitlichen europäischen Bildungsraum nötig, um einander zu verstehen, zusammenzuhalten und erfolgreich arbeiten und handeln zu können.

Das ist die Sicht der aktuellen Mehrsprachigkeitspolitik der Europäischen Union. Auf dem Sozialgipfel in Göteborg am 17. November 2017 hat die Europäische Kommission das Ziel proklamiert, dass bis 2025 jede/r EU-Bürger*in außer ihrer/ seiner Muttersprache zwei weitere Sprachen sprechen soll.[3] Dieser Forderung muss das Land Baden-Württemberg durch eine gute und zukunftsorientierte Bildungspolitik Rechnung tragen: Mittelfristig muss das Ziel die Erteilung von Herkunftssprachen als reguläre versetzungserhebliche Schulfächer sein[4].

Herkunftssprachlicher Unterricht im Regelunterricht ist nicht nur wegen der für Fachkräfte nötigen Kompetenzen wichtig, sondern auch integrationspolitisch zentral: Wenn die Kinder einander von Anfang an in ihrer sprachlichen, sozialen und kulturellen Vielfalt wahrnehmen, akzeptieren und schätzen lernen, entsteht echter Zusammenhalt – eine unentbehrliche Voraussetzung für eine „krisenfeste Gesellschaft“.

Helene Khuen-Belasi

Vorstandsmitglied LAKA Baden-Württemberg

Migrationsbeirätin in Karlsruhe

 

[3] COM (2017) 673, COM (2018), 272
[4 ]Bis dahin sind noch alle Formen von Herkunftssprachenunterricht nötig, die derzeit existieren: Unterricht durch Konsulate, derzeit in 14 Sprachen, sowie Initiativen wie z.B. der Arabischunterricht in Überlingen
Beitrag aus PARITÄTinform 2/2022

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