Wohnen im Zeitalter des BTHG

Fachinformation - geschrieben am 17.03.2023 - 09:49
eine ältere Dame im Rollstuhl in der Küche während ein ältererer Herr am Kühlschrank hantiert

Eines der Anliegen des seit 2016 geltenden BTHG ist es, die Unterstützung für Menschen mit Behinderung nicht mehr an eine bestimmte Wohnform, sondern ausschließlich am notwendigen individuellen Bedarf auszurichten. Es wird daher nicht mehr zwischen ambulanten, teilstationären und stationären Leistungen unterschieden. Der Schwerpunkt liegt auf den Assistenzleistungen, die individuell und personzentriert erbracht werden sollen.

Simone Papamichail begleitet seit 2007 als Wohnberaterin Menschen bei der Umsetzung ihrer Wohnwünsche und ihres Assistenzbedarfs bei den Hagsfelder Werkstätten und Wohngemeinschaften Karlsruhe (HWK), einer Betriebsgesellschaft der Lebenshilfe Karlsruhe, Ettlingen und Umgebung.

Aus Sicht der Wohnberatung ist der Ansatz der Personzentrierung innerhalb des BTHG ein wesentlicher Bestandteil zur Planung und Umsetzung selbstbestimmter Wohnformen. „In der Wohnberatung präsentieren wir daher keine vorhandenen Wohnmöglichkeiten, sondern begleiten Menschen auf dem Weg zu ihrem persönlichen Wohnwunsch“, sagt Simone Papamichail. Dabei können wir auch durch die vielfältig entstandenen Wohnideen der letzten Jahre die Menschen unterstützen, die noch keine eigene Idee haben, wie sie eigentlich wohnen möchten und was sie an Unterstützung brauchen.

Heute trifft sich Simone Papamichail mit einigen der „Wohnexperten“ in einem Treffpunkt in der Stadt Ettlingen. Die „Wohnexperten“ sind eine Gruppe von Nutzern aus dem Bereich Wohnen der HWK. Es sind Menschen mit sogenannten kognitiven Einschränkungen und auch körperlichen Behinderungen, die unterschiedlich leben und Assistenzleistungen bekommen. Sie begleitet die Wohnexperten auch auf Vorträge und Veranstaltungen in Schulen, wo sie von ihrem Leben ganz offen und ungeschminkt erzählen. Manchmal bekommen die Schüler sogar echte Einblicke in ihre Wohnungen.

Unterschiedliche Meinungen zu den Veränderungen durch das BTHG

Ute L. und Martin B. sagen: „Wir haben am 15. Oktober geheiratet. Seit wir nicht mehr zu Hause leben, haben wir viel ausprobiert. In der besonderen Wohnform war es zu Beginn sehr familiär und gut für uns. Dann haben wir in kleinen ambulanten Wohngemeinschaften gelebt, zunächst allein. Und jetzt leben wir als Ehepaar. Alle Umzüge haben wir selbst entschieden. Uns ist wichtig, dass wir unsere Wohnbegleitung behalten können, egal wo wir wohnen. Und dass die Wohnbegleiter alles mit uns mitmachen, sogar unsere Hochzeitsplanung. Unsere Familie unterstützt uns am Ende immer bei allen Entscheidungen, auch wenn sie erstmal über unsere Ideen staunen müssen. Mit dem BTHG haben wir nichts zu tun.“

So sagt Daniela F.: „Für mich hat sich nichts geändert. Ich wohne, wie ich möchte, alleine in meiner Wohnung und bekomme die Hilfe, die ich brauche. Das ist für mich perfekt so.“

Nabil Sch. sieht das anders: „Ich wohne in der besonderen Wohnform in der Außenwohngruppe. Es ist neu für mich, dass ich nun Grundsicherung bekomme und meine Miete selbst bezahlen muss. Am Ende bleibt trotzdem nicht mehr viel übrig. Die Wohngruppe ist mein Zuhause, seitdem ich 18 Jahre alt bin.“

Daniel N. vor dem Eingang seiner Wohnung

Ich habe meine Traum-WG gefunden. Hier bleibe ich, bis ich alt bin. Was mich am BTHG nervt, sind die Gespräche, in denen ich immer wieder sagen muss, wo meine Ziele sind. Ich will einfach nur glücklich leben und meine Hilfe bekommen, ohne streiten zu müssen. Für mich sind Hilfeplangespräche sehr anstrengend.

Daniel N.

Nicole M. meint dazu: „Ich habe ca. 30 Jahre sehr gerne im Wohnheim gelebt, dann habe ich eine Veränderung in meinem Leben gebraucht. Nun wohne ich seit 2013 mit Studenten gemeinsam in einer Fünfer-WG. Die Hilfe, die ich jetzt habe, ist anders organisiert, man muss flexibler sein, aber die unterschiedlichen Menschen und Erlebnisse in der WG gefallen mir super gut. Dass ich nachts manchmal Hilfe benötige, stört niemanden, bei der Pflege unterstützt mich auch noch ein ambulanter Pflegedienst."

Die Wohnbedürfnisse sind unterschiedlich wie die Menschen selbst

In der Wohnberatung habe ich den Eindruck, dass die Menschen, die ich in den letzten Jahren begleitet habe, die Idee der Personzentrierung schon lange leben oder leben wollten“, resümiert Simone Papamichail. Der Name der Wohnform hat für sie nie eine wirkliche Rolle gespielt. Auf die Wohnqualität kommt es ihnen an. Und diese Wohnbedürfnisse sind dabei so unterschiedlich, wie die Menschen unterschiedlich sind.

Wohnen ist ein Menschenrecht und das Wunsch- und Wahl recht ist seit der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 in Deutschland ratifiziert. Die neuen Regelungen im BTHG sollten der Forderung nach Selbstbestimmung und uneingeschränkter Teilhabe folgen und diese auf ein neues Level heben.

Die Ausrichtung der Assistenzleistung auf die individuellen Bedarfe der Menschen mit Behinderung ist deshalb eine gemeinschaftliche Aufgabe aller Beteiligten. Hier stehen das Miteinander von Einrichtungen, Kostenträger und die Selbstvertretern in der Verantwortung.

Auf die Frage, was für die Wohnexperten Soziale Teilhabe eigentlich ist, sind sich alle einig: „Man muss nicht viel können, um selbstbestimmt Teilhabe zu leben. Es kommt vor allem darauf an, dass die Unterstützung passt!“

Simone Papamichail
Wohnberaterin
Hagsfelder Werkstätten und Wohngemeinschaft Karlsruhe gGmbH
 
Beitrag aus ParitätInform 4/2022

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